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Beerdigung


Er war an diesem Morgen nicht so früh im Büro wie er eigentlich wollte, aber immerhin früher, als er es in den letzten Wochen zumeist geschafft hatte. Es war kein guter Tag. Zum ersten Mal in langer Zeit war ihm wirklich kalt. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Thermostaten. Aber es würde nichts bringen, die Heizung aufzudrehen. Die Kälte, die ihn plagte, kam von innen.

Draußen bot der junge Herbst einen seiner ersten Stürme auf. Normalerweise hätte er die Jalousie geöffnet und dem Schauspiel gebannt zugesehen. Er hatte großen Respekt vor den unermesslichen Gewalten, die die Natur entfalten konnte. Aber an diesem Tag war das nichts gegenüber dem Sturm der Gefühle in seinem Innern.

Die Tür seines Büros, die er normalerweise offen stehen ließ, war heute geschlossen. Er arbeitete allein in diesem Büro, und im Augenblick war er dafür sehr dankbar. Trotzdem war dies kein Ort, an dem er seine Beherrschung fallen lassen, unkontrolliert zusammenbrechen und alles hinausheulen konnte, so, wie er es eigentlich dringend nötig hatte.

Es war ein Todeskampf, der in ihm wütete. Und er hatte nicht mehr die Kraft, darin einzugreifen. Er war vollständig ausgelaugt und erschöpft von dem Auf und Ab der Gefühle, dass er in der letzten Zeit durchgemacht hatte. Die Ungewissheit und die Angst des unerwiderten Verliebtseins hatten ihn zwei Wochen lang auf Schritt und Tritt begleitet. Aber der Schmerz der Ungewissheit war ein süßer Schmerz, den er ertragen und in gewisser Weise sogar auskosten und genießen konnte. Der Schmerz der sterbenden Hoffnung hingegen war unerträglich. Das Verliebtsein würde den Tod der Hoffnung überdauern, aber nicht lange. Denn ohne Hoffnung war die Liebe stets selbst zum Tode verurteilt.

Er hegte keinen Groll gegen die Frau, die zwei Wochen zuvor in sein Leben getreten war und all dies ausgelöst hatte. Im Gegenteil wusste er ganz genau, dass er sich wieder in sie verlieben würde, wenn er sie erneut kennenlernen könnte. Seine Gedanken verloren sich in einem Nachruf auf all die Dinge, nach denen er sich in seinem Leben so sehr sehnte und von denen er in den zwei Wochen immer wieder geglaubt hatte, sie seien nun in greifbare Nähe gerückt. Jetzt blieben ihm wieder nur die Sehnsucht und der Schmerz. Aber dieses Risiko war er wissentlich eingegangen, und er wusste auch, welchen Weg er nun zu gehen hatte.

Schlagartig kehrten seine Gedanken an seinen Schreibtisch zurück, und zusätzlicher Missmut breitete sich aus. Ihm war klar, dass er an diesem Tag nicht vorankommen würde mit seiner Arbeit. Das war schon die ganze Woche so gegangen und es ärgerte ihn. Aber genauso gut wusste er auch, dass das jetzt vollkommen unwichtig war. Von dem, was er zu tun hatte, wählte er das Anspruchloseste aus und gestattete sich, nebenbei seine Gefühle weiter zu ergründen.

Er würde seinen Weg bis zum Ende gehen, wie er es immer tat, egal, wie sehr es wehtat. Der Schmerz, das wusste er, würde irgendwann vergehen. Aber die Sehnsucht würde bleiben. Die Sehnsucht, die in seinem Leben immer mehr zu einer treibenden Kraft wurde. Sie war sein treuester Weggefährte, der Einzige, auf dessen Wiederkehr er sich immer verlassen konnte; der Einzige, der seiner nicht irgendwann überdrüssig wurde. Wie immer, wenn er sich in solch einer Lage befand, war er allein, und wie immer in solchen Momenten wurde ihm schmerzlich bewusst, wie abgrundtief er die Einsamkeit hasste. In diesem Augenblick wünschte er sich nichts mehr als einen Menschen, der ihn in den Arm nahm und ihn tröstete und an dessen Schulter er alles ausweinen konnte. Aber er hatte keinen solchen Menschen in seinem Leben, und wie immer konnte er nur auf seine eigene Stärke und seine Selbstständigkeit vertrauen, um wieder Halt zu finden.

Aber er bereute nichts. Die Frau, die er kennengelernt hatte, war ein wunderbarer Mensch. Sie war aufgeschlossen und ehrlich zu ihm und hatte absolut nichts getan, das er ihr vorwerfen konnte. Sie hatte sich nur einfach nicht in ihn verliebt. Diese Situation war für ihn nicht neu. Sie war nicht einmal ungewöhnlich. Und trotzdem war es jedes Mal anders, musste er jedes Mal aufs Neue einen Weg suchen, mit der Situation umzugehen. Jedes Mal, wenn die Hoffnung starb, starb ein kleines Stück von ihm mit. Trotzdem vertraute er tief in seinem Innern darauf, solche Rückschläge auch weiterhin verkraften zu können.

Er bereute auch deshalb nichts, weil er zu seinen Gefühlen stand und darüber ehrlich zu sich selbst und zu ihr war. Er hatte sich ihr so gezeigt, wie er wirklich war. Er hatte ihr offen von seinen Träumen und Wünschen erzählt. Er hatte alles, was er war und hatte, in die Waagschale geworfen, und dann nicht mehr tun können als zu hoffen, dass das ausreichen würde. Nun endlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass es nicht ausreichte.

Ein paar Mal war er schon kurz davor gewesen zu akzeptieren, dass es zwischen ihm und ihr nicht mehr als Freundschaft geben konnte. Aber jedes Mal, wenn er soweit war, hatte sie in ihren Äußerungen angedeutet, dass sie selbst durch ihre Gefühle ihm gegenüber verwirrt war und nicht wusste, was daraus werden würde. Es waren nur Sandkörner an einer glatten Felswand, aber an jedes dieser Sandkörner hatte er sich mit seiner ganzen Hoffnung geklammert.

Ein Teil von ihm hatte die ganze Zeit krampfhaft versucht sich vorzustellen, dass sie aufgrund schlechter Erfahrungen den Glauben an die Liebe verloren hatte und dass er ihn ihr als edler Retter zurückbringen konnte. Er hatte davon geträumt, dass bei ihr irgendwann ein Damm brechen würde und sie dies erkennen und ihn dafür lieben würde. Die Wahrheit war indes viel einfacher: Er rief in ihr schlichtweg keine solchen Gefühle hervor. Zwar hatte sie durchaus ihm gegenüber die Angst geäußert, überhaupt nicht mehr fähig zu sein, Verliebtheit zu spüren, aber er wusste genau, dass man so etwas nicht verlernen konnte. Er war überzeugt, dass sie irgendwann einen Menschen kennenlernen würde, der augenblicklich all die Gefühle in ihr wachrufen würde, die sie nun vermisste. Von tiefstem Herzen wünschte er ihr dieses Erlebnis. Das hieß aber auch, dass er von ihr ablassen musste, denn mit ihm würde sie dieses Erlebnis nicht haben.

Auf der anderen Seite war sie aber zu einer der wichtigsten Personen in seinem Leben geworden, und er konnte sich nicht vorstellen, sie wieder zu verlieren. Sie hatte sich die Mühe gemacht, hinter seine Fassade zu blicken und ihn näher kennenzulernen, und das war mehr, als die meisten Menschen, denen er bisher begegnet war, für ihn getan hatten. Zum Teil war es vielleicht auch das, worin er sich verliebt hatte.

Aber nun spürte er deutlich, dass ihre Bereitschaft, sich mit ihm auseinanderzusetzen, nachließ. Sie stellte fast keine Fragen mehr, und er war sich sicher, dass sie ihm in einigen Gesprächsthemen ausweichen würde. Sie hatte ihre Unbefangenheit verloren. Ihr Verhältnis zueinander war irgendwie in eine Sackgasse geraten, und nun sah er der Gefahr ins Auge, alles zu verlieren. Er wusste, wenn die Dinge so weiterliefen, würde sie bald den Kontakt ganz abbrechen, und dieser Gedanke war ihm am unerträglichsten von allen. Er war heftig verliebt in sie und es war seine Natur, das Unmögliche zu hoffen so lange es irgendwie ging. Aber er musste endlich begreifen, dass sie nie Schmetterlinge im Bauch für ihn empfinden würde, und so sehr ihn das schmerzte, wusste er genau, dass es selbstsüchtig war, an seiner Verliebtheit festzuhalten. Diese Frau zu lieben musste für ihn bedeuten, sie freizulassen.

Und an diesem Morgen, an dem er unter Tränen das, was die Liebe seines Lebens hätte werden können, einsam zu Grabe trug, fand er seinen einzigen Trost in der Hoffnung, dadurch eine Freundschaft gerettet zu haben.



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