Grenzgang
"Hallo!" Ihr warmes, freundliches Lächeln strahlte ihm
unvermittelt entgegen. Er hatte nicht damit gerechnet, sie hier zu
treffen. Überraschung, Freude und Angst rangen nun in ihm. "Hallo"
gab er zurück, bemühte sich seinerseits um ein Lächeln
und fragte sich, welches der drei Gefühle wohl den Sprung in seine
Gesichtszüge geschafft hatte. Einen Augenblick lang sah sie ihn
an, und während er innerlich unter ihrem Blick dahinschmolz,
schalt er sich töricht und überlegte ein weiteres Mal, wie es
zu dieser Situation gekommen war.
Eigentlich war es merkwürdig. Er kannte sie schon seit Jahren.
Sein Verhältnis zu ihr war stets von äußerster
Freundschaftlichkeit geprägt gewesen. Sie sahen sich fast
regelmäßig, und jeder wusste ein paar Dinge über den
Anderen, aber im Grunde musste er zugeben, dass er sie kaum kannte. Er
wusste auch nicht, welche Meinung sie von ihm hatte; sie war immer
freundlich zu ihm und zu jedermann, und anscheinend hatte sie sich mit
ihm nicht mehr auseinandergesetzt als er mit ihr.
Doch irgend etwas hatte sich in der letzten Zeit verändert.
Ursprünglich hatte er geglaubt, in ihrem Verhalten ihm
gegenüber kleine Änderungen entdeckt zu haben. Inzwischen
nahm er eher an, dass allein seine eigene Wahrnehmung sich
verändert hatte. Er hatte wohl einige Bemerkungen falsch
interpretiert und war so auf dumme Gedanken gekommen. Der Zweifel blieb
jedoch -- und egal, was der Auslöser gewesen war, das Ergebnis
ließ sich nicht leugnen. Neugier war in ihm geweckt worden. Er
hatte begonnen, Seiten an ihr zu entdecken, die er zuvor nicht
wahrgenommen hatte, und je mehr er sich mit ihr beschäftigte,
desto neugieriger wurde er. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie er
an sie dachte und sich fragte, welche Gedanken, Gefühle,
Sehnsüchte und Träume sie wohl haben mochte und was für
Dinge ihr im Leben wohl wichtig waren. Er ertappte sich dabei, wie er
sie beobachtete. Er hatte sie immer als gutaussehend wahrgenommen, aber
nun faszinierten ihn auf einmal lauter Kleinigkeiten: ihre Haarfarbe,
die Art und Weise, wie ihre Gesichtszüge sich beim Lachen
veränderten, der weiche, helle Klang ihrer Stimme, ...
Bald hatte er auch erste Gefühlsregungen gespürt. Der Gedanke
an sie hatte sich schnell eine Verbindung geschaffen zu seiner
ureigenen Sehnsucht nach Zweisamkeit und nach Zärtlichkeit, nach
gemeinsamen Unternehmungen und langen, tiefgründigen
Gesprächen. Es war ein Gefühl, das ihm das Herz wärmte
und ihn mit Freude und Hoffnung erfüllte. Zum ersten Mal in langer
Zeit verspürte er deutlich den Wunsch auszubrechen aus seiner
Einsamkeit, aus seiner Rolle als Einzelkämpfer, aus seiner den
Kontakt zu Anderen erübrigenden Selbstständigkeit. Mit ihr
konnte ihm dieser Ausbruch gelingen -- vorausgesetzt, seine
Gefühle wurden erwidert. Diese Unsicherheit betrübte ihn.
Immer wieder hatte er sich gefragt, ob sie ihn wohl jemals in dem Licht
gesehen hatte, in dem er sie jetzt sah. Hatte sie in der Tat -- bewusst
oder unbewusst -- durch Veränderungen in ihrem Verhalten diese
Gedanken und Gefühle in ihm hervorgerufen? Oder war das alles nur
ein Hirngespinst von ihm? Hatte sie die daraufhin zweifellos
eingetretenen Veränderungen in seinem Verhalten wahrgenommen?
All diese Fragen konnte er nicht selbst beantworten. Ihm war die
Unmöglichkeit klar, aus ihrem Verhalten Rückschlüsse auf
etwaige Gefühle für ihn zu ziehen, wo er doch so wenig
über sie wusste. Außerdem war er sich nicht einmal ganz im
Klaren darüber, wie er seine eigene seelische Verfassung einordnen
sollte. Die Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe waren
fließend, wie er festgestellt hatte, und es war nicht immer
möglich zu sagen, auf welcher Seite man sich gerade befand.
Er wusste, dass der gegenwärtige Zustand nicht lange bestehen
bleiben konnte. Er genoss die Gefühle, die in ihm geweckt worden
waren, aber die vielen Zweifel und offenen Fragen quälten ihn.
Dennoch hatte er sich zunächst auf die dankbare Rolle des
heimlichen Verehrers eingelassen. Aus der Notwendigkeit heraus, seine
eigenen sowie ihre vermutlichen Gefühle erst einmal in Ruhe zu
studieren, wie er sich einredete, und aus Angst, zurückgewiesen zu
werden, wie er sich insgeheim eingestehen musste. Solange er diese
Deckung aufrecht erhielt, blieb ihm zwar die Pein der Ungewissheit,
aber auch die Freude der Hoffnung.
Und nun stand sie ganz plötzlich vor ihm, freundlich, herzlich,
hübsch, wie immer, und das Licht spielte ein fröhliches
Farbenspiel mit ihrem Haar. Wieder rief ein Teil von ihm danach, sie im
Sturmangriff mit seinen Gedanken und Gefühlen zu konfrontieren.
Sie hatte schließlich ein Recht, zu wissen wie die Dinge standen,
und auch er würde so erfahren, woran er war. Aber er wusste auch
um die Gefahr, die darin lag, mit der Tür ins Haus zu fallen. Mehr
noch als bloße Zurückweisung fürchtete er, dass sein
Handeln als missverstandene Freundschaft gewertet werden könnte
und dass er somit das wunderbare kumpelhafte Verhältnis zu ihr
aufs Spiel setzte. Die Zahl seiner Freunde war gering genug, um dieses
Risiko eindeutig als unannehmbar herauszustellen. Er unterdrückte
den flüchtigen Impuls, sie einfach zu umarmen und begnügte
sich damit, sie anzuschweigen.
Nach einem unendlichen, kurzen Augenblick sagte sie -- ein wenig
verlegen, wie ihm schien --: "Nun... wir sehen uns dann heute Abend."
Er schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ja, heute Abend,
dachte er. Umgeben von zahlreichen Leuten, wie immer. Dort, wo er sie
regelmäßig sah, fühlte er sich ihr besonders nah, weil
er sich das Gefühl einreden konnte, dass ihn mit ihr eine Art
Geheimnis verband. Und gleichzeitig fühlte er sich ihr besonders
fern, weil er dort noch viel weniger als anderswo über das reden
konnte, was ihn bewegte. Trotzdem freute er sich darauf, wie auf jede
Gelegenheit, in ihrer Nähe zu sein. "Ja," gab er zurück, "bis
heute Abend."
Noch bevor sie wirklich zu ende war begann die flüchtige
Begegnung, sich wieder und wieder in seinen Gedanken zu wiederholen. Er
hatte eine Gelegenheit verstreichen lassen -- aber nein, der Zeitpunkt
wäre nicht der Richtige gewesen -- gut, aber er hätte
wenigstens ein Gespräch mit ihr beginnen können -- ach, es
hätte ja doch nichts geändert: das, was er ihr wirklich zu
sagen hatte, wäre unerwähnt geblieben. Der Wunsch, sich ihr
mitzuteilen, wurde immer größer, aber umso größer
wurde auch seine Angst. Also hatte er sich für das Warten
entschieden. Liebende, dachte er, hoffen gerne darauf, dass die Zeit
ihnen hilft. Dass sie, wenn sie lange genug warten, ihre Frage erst zu
stellen brauchen, wenn sie die Antwort schon kennen. Doch seine
Ungeduld und seine Intuition waren sich einig, dass er nicht so lange
würde warten können. Er würde seine Frage stellen
müssen, ohne ihre Antwort auch nur erahnen zu können.
Andererseits ging es aber auch darum ihr mitzuteilen, dass jede Minute
ihrer Gegenwart für ihn ein Grund zur Freude, jede Sekunde ihrer
ungeteilten Aufmerksamkeit gar für ihn ein großes Geschenk
geworden war. Dazu bedurfte es einer ganz besonderen Situation und vor
allem ganz besonderer Worte. Beides passte nicht zu einer
zufälligen Begegnung.
Er sah ihr nach, während sie sich entfernte, und hoffte,
irgendwann die richtigen Worte zu finden.
|