Hinterher
Ein Strahl der Morgensonne schien durch die Öffnung, die
früher einmal ein Fenster gewesen sein mochte, und
entblößte dabei unzählige Staubteilchen, die durch die
Luft schwirrten. Die Sonne stieg empor, und als der Strahl sein Gesicht
erreichte, wachte er auf. Das Erste, was er in dem grellen Licht
erkannte, waren die tanzenden Staubkörner. Dieser Staub, dachte er,
immer und überall dieser Staub.
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Eigentlich hatte
er Glück gehabt, obwohl er sich dessen oft nicht so sicher war. Er
hatte diesen Raum kurz nach jenem Tag entdeckt. Er bot guten Schutz
gegen Wind und Sturm, aber vor allen Dingen war er trocken. Sein Blick
blieb an Paula hängen, die nahe der Öffnung ein morgendliches
Sonnenbad nahm. Paula hatte er vor einigen Wochen gefunden, zwischen
Trümmern liegend. Immer wieder stellte er sie sich vor, wie sie im
dritten oder vierten Stockwerk an einem Fenster stand, damals, als es
noch dritte und vierte Stockwerke gab. Von dort oben musste sie an
jenem Tag herabgestürzt sein. Und gleichwohl er sich ihrer
angenommen hatte, hatte er zunächst wenig Hoffnung gehabt, dass
sie überleben würde. Aber Paula war stark und voller
Lebensmut. Sie hatte gekämpft und gewonnen.
Nun aber sollte sie nicht so lange in der Sonne bleiben. Es würde
im Laufe des Tages wieder sehr warm werden, aber im hinteren Teil des
Hohlraumes, im Schatten, würde es kühl bleiben. Er dachte
daran, dass der Sommer bald vorbei sein würde. Er musste langsam
anfangen, sich auf den Winter vorzubereiten. Er musste sehen, ob er ein
paar Decken auftreiben konnte, und vielleicht auch etwas, um die
Öffnung abzudecken. Vor allem aber musste er etwas finden, womit
er Feuer machen konnte.
Plötzlich kehrten seine Gedanken zu viel unmittelbareren
Notwendigkeiten zurück.
Paula.
Sie brauchte Wasser. Auch sein eigener Durst wurde ihm bewusst. Er
stand auf und ging hinüber zu dem Blechkanister. Leer. Damit war
klar, was er zu tun hatte.
Durch die Öffnung kletterte er aus dem Hohlraum. Als er
draußen stand, sah er sich wie üblich zunächst einmal
um. Und wie üblich beschlich ihn der Gedanke, wie unfassbar es
war, dass Häuser, Straßenzüge, dass eine ganze Stadt
verschwunden war. Oft hatte er an derselben Stelle gestanden, und dabei
war ihm stets das Wort "Straßenschluchten" durch den Kopf
gegangen. Jetzt war es eine Trümmerwüste.
Er zwang seine Gedanken, in das Hier und Jetzt zurückzukehren. Den
Blechkanister in der Hand nahm er den beschwerlichen Weg zum Fluss auf.
Er fühlte, wie die Faust, die sein Herz seit jenem Tag umklammert
hielt, sich verkrampfte. Früher war er den Weg zum Fluss oft
gegangen, in seinen Spaziergängen. Er hatte ihn sehr gut gekannt,
doch nun musste er ihn jedes Mal erneut suchen.
Während die noch aufsteigende Sonne erste Schweißtropfen auf
seine Stirn trieb, holte ihn die Erinnerung an die Zeit vor jenem Tag
ein. Für ihn wie für die meisten Leute hier war Krieg immer
etwas gewesen, das in (räumlich oder zeitlich) weiter Ferne
stattfand, und das man gemütlich auf dem Sofa sitzend an einem
Bildschirm verfolgen konnte, sachlich überlegend, welche Partei
aus welchen Gründen gewinnen sollte. Dass der Krieg einmal hierher
zurückkehren könnte, hatten Viele befürchtet, aber als
er dann an jenem Tag plötzlich da war, war niemand darauf
vorbereitet. Die Meisten fielen dem zum Opfer, und ihm selbst war nicht
klar, wie und warum er überlebt hatte.
Nach Erreichen des Flusses machte er sich daran, zum Ufer
hinabzusteigen. Misstrauisch beäugte er den Fluss. Das Wasser sah
nicht gut aus, und er hatte auch keine Ahnung, wie es
flussaufwärts aussah. Überhaupt hatte es keine
Möglichkeit gegeben, irgend etwas von außerhalb zu erfahren.
Er hatte andernorts Verwandte und Freunde, und immer wieder fragte er
sich, ob er jemals ihr Schicksal kennen würde oder sie das seine.
Nein, das Wasser sah nicht gut aus, aber es war vorerst das Einzige,
das er hatte. Er durfte nicht vergessen, einen Auffangbehälter zu
besorgen; irgendwann würde es wieder regnen. In der Zwischenzeit
füllte er seinen Blechkanister. Er sah sich noch einmal um, dann
wischte er mit dem Rest seines Ärmels den Schweiß von seiner
Stirn. Schließlich trat er den Rückweg an, der mit vollem
Kanister noch mühsamer sein würde.
Nachdem der ohrenbetäubende Lärm jenes Tages verklungen war,
war ihm als Erstes die Ruhe aufgefallen, eine Ruhe, wie er sie zuvor
nicht gekannt hatte. Weit und breit schien er der einzige Lebende zu
sein. Die Körper derjenigen, von denen er nicht zu sagen
vermochte, ob sie mehr oder weniger Glück gehabt hatten als er,
lagen überall herum. Bald hatte es in der Trümmerwüste
angefangen fürchterlich zu stinken. Nach einiger Zeit war der
Gestank jedoch weniger intensiv geworden, oder er hatte sich daran
gewöhnt. Wie viel Zeit inzwischen vergangen war, wusste er nicht
genau, aber er hatte schon zwei Vollmonde gezählt.
Er vermutete, dass die Meisten der wenigen Überlebenden sich in
der Gegend zusammengerottet hatten, in der früher der Bahnhof
gewesen war. Das lag auf der anderen Seite eines Flusses, über den
keine Brücken mehr führten. Natürlich hätte er den
Fluss überqueren können, einen Tag glaubte er sogar in der
Ferne jemanden im Fluss schwimmend gesehen zu haben. Aber er hatte sich
entschieden, erst einmal sein eigenes Glück zu versuchen. Er war
stets alleine zurechtgekommen, und er sah gerade jetzt keinen Grund,
daran etwas zu ändern. Außerdem brauchte er die Ruhe: Es gab
Vieles, worüber er nachdenken musste.
Die Nachmittagssonne fand ihn auf Nahrungssuche. Einige Tage zuvor war
er beim wahllosen Graben in den Trümmern auf die Reste eines
Supermarktes gestoßen. Zu seiner Freude bestand sein erster Fund
aus einigen unversehrten Kekspackungen. Er hatte weitergegraben und
schließlich einen Großteil der Süßwarenabteilung
freigelegt. Nun setzte er seine Arbeit ein paar Meter entfernt fort.
Nachdem er einige Zeit lang Steine beiseite geräumt und im Schutt
gegraben hatte, offenbarte sich ihm sein Lohn. Mit einem Hauch von
Enttäuschung stellte er fest, dass er in der Teigwarenabteilung
gelandet war. Er setzte sich auf einen Steinhaufen und dachte nach. Er
brauchte unbedingt eine Möglichkeit, Feuer zu machen. Er hatte den
Supermarkt gekannt, und nun versuchte er nachzuvollziehen, wo die
Haushaltswarenabteilung geblieben sein konnte.
Plötzlich nahm er mit den Augenwinkeln eine Bewegung wahr und fuhr
erschrocken herum. Einige Meter von ihm entfernt stand eine Frau und
sah ihn mit großen Augen an. Wie er war sie von dieser Begegnung
offensichtlich sehr überrascht; wie er machte sie einen
verwahrlosten Eindruck und trug nur noch die Reste ihrer Kleidung am
Leib; wie er hatte sie vermutlich seit Wochen keinen anderen Menschen
gesehen und wie er hatte sie vielleicht schon lange kein Wort mehr
gesprochen. Sie schien ungefähr in seinem Alter zu sein.
Er kämpfte den ersten Impuls nieder, der ihm die unbedingte
Verteidigung seines Reviers nahelegte. Lange sahen sie sich nur an. Sie
waren von absoluter Stille umhüllt. Die Luft flimmerte in der
Hitze des Nachmittags. Ohne den Blick von ihr zu wenden, hielt er
schließlich eine Packung Nudeln hoch. Ihre Mundwinkel zuckten und
verbogen sich zu etwas, das vielleicht ein Lächeln sein konnte.
Ohne ihrerseits den Blick von ihm zu wenden, hielt sie eine
Streichholzschachtel hoch. Dann trat sie langsam näher und setzte
sich neben ihn. Eine ganze Weile saßen sie dort und schwiegen.
Immer wieder musterte er sie aus den Augenwinkeln, bis er feststellte,
dass ihr wie ihm Tränen über die Wangen liefen.
Als die Sonne groß und rot war und gerade dabei, am Horizont zu
versinken, kletterte er durch die Öffnung in seinen Hohlraum
zurück. Er wusste nicht, ob er diesen Tag als gut bezeichnen
konnte, aber er war besser als die Meisten, die er seit jenem Tag
erlebt hatte.
Wir bekommen Besuch, Paula. Stell dir vor, ich habe heute Nadja
getroffen, und sie möchte dich unbedingt kennenlernen. Sie wird
morgen herkommen. Sie ist ein wenig schüchtern, weißt du,
und ich dachte mir, es geziemt sich nicht, sie gleich heute zu uns
einzuladen. Aber morgen wird sie uns besuchen. Du musst dich
hübsch machen, Paula.
Und mit dem Rest seines Ärmels wischte er den Staub von den zwei
zarten Blättern, die ihr kahler Stengel in den letzten Tagen
hervorgebracht hatte.
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