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Reden ist Silber


"Wie war dein Tag?" -- Da war sie, die Frage, die er ebenso befürchtet hatte, wie er auf sie hoffte. Noch bevor er in seinen Gedanken eine angemessene Antwort formulieren konnte, katapultierte ein Reflex die abwehrende Phrase über seine Lippen: "Na ja, so wie immer. Du weißt schon." Sofort biss er sich auf die Lippen. Auf einmal war da wieder diese unüberwindbare Barriere. Sein Blick hielt dem Ihren nicht mehr Stand. Er senkte den Kopf, um nicht ansehen zu müssen, wie ihr offenes, neugieriges Lächeln von Enttäuschung überschattet wurde.

In der Tat war sein Tag wundervoll gewesen, und er hatte sich eigentlich darauf gefreut, sein Glück mit ihr zu teilen. Er hatte herrliches Wetter genossen, mit guten Freunden gewitzte Gespräche geführt; er hatte Neues gelernt und seinen Horizont erweitert. Vor allem war er mit seiner Arbeit nach wochenlangem Frust wieder gut vorangekommen. Glücklich und zufrieden hatte er den Heimweg angetreten und sich dabei ausgemalt, wie er ihr von seinem Tag berichten würde, sich gar die Worte schon zurechtgelegt. Er erinnerte sich auch an die Freude, die er bei der Vorstellung empfunden hatte, seine Erlebnisse mit ihr zu teilen.

Doch nun entwich seine Freude wie die Luft aus einem alten Reifen. Auf einmal schien alles so sinnlos und kompliziert. Wo sollte er anfangen? Wie sollte sie seine Erzählung über die Begegnung mit seinen Freunden einordnen, wenn sie selbige nicht kannte? Wie sollte sie sein Erfolgserlebnis bei der Arbeit nachvollziehen können, wenn sie nicht die Herausforderungen kannte, denen er sich hatte stellen müssen? Er müsste so weit ausholen und so viel Anderes erzählen, damit sie ihn verstehen könnte. Er fühlte sich plötzlich müde und ausgelaugt.

Sie wandte sich langsam ab und begann beiläufig, in der Wohnung aufzuräumen. Er betrachtete sie. Ihre Enttäuschung war deutlich zu spüren. Er wusste, dass sie ihn liebte und dass sie darauf hoffte, mehr von seinem Alltag zu erfahren. Er wusste auch, dass sie sich jetzt ausgeschlossen fühlte. Er fühlte sich unendlich fern von ihr. Er liebte sie und hatte eigentlich die feste Absicht, alles was er war und hatte mit ihr zu teilen. Warum war es dann nur so schwer, mit ihr zu reden? Es gab so vieles, das er ihr gerne erzählt hätte. Wenn er doch nur einmal den richtigen Ansatz finden könnte.

Aber es war ja auch ihre Schuld. Was sollte diese uneingeschränkt allgemeine Frage, die ihn geradezu nötigte, seinen gesamten Tagesablauf in chronologisch richtiger Reihenfolge zu Protokoll zu geben? Was erwartete sie nur für eine Antwort hier, mitten im Flur, wenn nicht gleich einen stundenlangen Bericht? --- Nein. Er zügelte seine Gedanken. Heute wollte er keine Ausreden akzeptieren. Natürlich trug sie keine Schuld. Ihre Frage war Ausdruck eines ehrlichen Interesses und keine Höflichkeitsfloskel und er hätte sich nie angewöhnen dürfen, sie mit einer Höflichkeitsfloskel zu beantworten. Er wusste, dass sie darunter litt, und auch er litt darunter. Wie gerne hätte er ihr erzählt, wie sein Tag war.

Aber er schwieg.



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