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Tod auf bornländisch


I.) Ajeschna

Entsetzen überkam sie, als die Wirkung des Giftes einsetzte. Es dauerte nicht lange, ehe er zu Boden fiel. Mit einem Arm streifte er dabei den Tisch und riss seine Suppenschüssel mit, die auf dem Holzboden zerschellte. Das Gift wirkte schnell; er wand sich kaum noch vor Schmerzen. Sie konnte den Anblick nicht ertragen und wandte sich ab. Aber es war zu spät: Sein Blick in dem Moment, in dem er begriff, was mit ihm geschah, hatte sich tief in ihre Erinnerung gebrannt. Er war nicht einmal anklagend gewesen, dieser Blick. Überrascht war er, entsetzt, verzweifelt. Und fragend. Warum, meine Liebe? Warum?
Ajeschna wusste nicht , wie viel Zeit vergangen war, als ihr bewusst wurde, dass Wlad sich nicht mehr regte. Gleichzeitig drang in ihr Bewusstsein, dass Wanja in der Tür stand.
„Schaff ihn fort“ sagte sie ohne sich ihm zuzuwenden und bemühte sich dabei um denselben ruhigen, bestimmten Ton, mit dem sie sonst ihre Befehle erteilte.
„Wohin, Mütterchen?“ – Ja, wohin? Sie wusste es nicht.
„Hinaus... in den Wald“ entschied sie. Es war ihr egal. Sie wollte ihn einfach nur los sein.
Wanja machte sich ohne weitere Nachfragen daran, den reglosen Körper zur Tür zu schleifen. Kurz, bevor er die Tür erreichte, sagte sie:
„Bring ihn alleine weg. Verstehst du? Und sprich darüber kein Wort. Zu niemandem.“
„Jawohl, Mütterchen.“
Als Katinka wenig später das Zimmer betrat, um die Abendtafel abzudecken, stand Ajeschna immer noch regungslos am Fenster und starrte in die Dunkelheit. Schnell deckte sie ab, sammelte die Scherben der Suppenschüssel auf und verschwand wieder.
Katinkas Gegenwart hatte Ajeschna gar nicht bemerkt. Sie war wie gelähmt und ihre Sinne waren getrübt. Aus ihren Augen quollen unaufhörbar Tränen, und immer wieder musste sie heftig schluchzen. Sie hatte gedacht, es würde leichter sein, wenn sein Körper nicht mehr im Zimmer war, aber sein Geist schien der Raum nun um so stärker auszufüllen. Es war egal, ob sie die Augen schloss oder nicht, die ganze Zeit sah sie ihn vor sich, wie er sie fragend anblickte. Warum, meine Liebe? Warum?
‚Bei allen Göttern, was habe ich getan?‘ dachte sie. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen. Die Nacht auf der anderen Seite des Fensters, in die sie die ganze Zeit gestarrt hatte, ohne sie wahrzunehmen, umhüllte sie auf einmal. Sie sank zu Boden.

Ajeschna konnte sich nicht daran erinnern, Wlad jemals nicht geliebt zu haben. Schon im Säuglingsalter waren sie Spielgefährten gewesen, damals, als ihre Väter sich noch herzlich umarmten und gemeinsam Bruderschaft tranken. Abgesehen von ihren Kindermädchen hatten sie die meiste Zeit in ihrem Leben miteinander verbracht, und im Laufe der Zeit waren Ajeschna und Wlad die vielen Gemeinsamkeiten klar geworden, die sie verbanden. Sie waren zu der Überzeugung gelangt, füreinander bestimmt zu sein.
Es war für Ajeschna ein schwerer Schlag, als ihr Vater sich weigerte, einer Hochzeit mit Wlad zuzustimmen. Sie konnte es nicht verstehen. Sein Verhältnis zu Wlads Vater Sergij war, wie ihre Amme Jerena – der Todesgott Boron sei ihrer gnädig – ihr erklärte, merklich abgekühlt und zu einem gnadenlosen Konkurrenzkampf geworden, seit für den vorherrschenden Adligen in diesem Teil Seweriens, der nördlichsten Provinz des Bornlandes, die Baronswürde in Aussicht stand.
Wenig später hatte ihr Vater sie in die Hauptstadt Festum geschickt, um „die Manieren der feinen Gesellschaft zu lernen“, wie er sagte. Ajeschna war jedoch überzeugt, dass dies ein Versuch darstellte, sie von Wlad zu trennen. Zwei lange Jahre verbrachte sie in Festum, aber durch unzählige leidenschaftliche Briefe gelang es den Beiden, ihren Kontakt aufrecht und ihre Liebe am Leben zu halten.
Als sie nach Trevenen zurückkehrte, hatte ihr Vater sein Gut bereits deutlich vergrößern können. Es war ihm gelungen, die Höfe einiger benachbarter Adligen aufzukaufen, die anschließend als landlose Junker nach Festum gezogen waren. Sergij von Eschenholz war es in den letzten Jahren nicht so gut ergangen. Wie man im Dorf munkelte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch ihm nichts Anderes übrig blieb, als sein Land an Väterchen Mirosew zu verkaufen. Noch entschiedener als zuvor lehnte dieser jetzt einen Ehebund mit dem Hause von Eschenholz ab.
„Dieser Fuchs!“ sagte er. „Er sieht, dass er sein Land an mich verlieren wird und will nun seinen Erben zu meinem Erben machen, um doch noch den Sieg davonzutragen.“
Um Ajeschna zu trösten und, wie sie vermutete, abzulenken, übertrug er ihr die alleinige Verantwortung für die Einrichtung des neuen Hauses, dessen Bau er in Auftrag gegeben hatte. „Ein Anwesen, das eines Barons würdig ist“, wie er zu sagen pflegte.
Das neue Haus lag am Dorfrand inmitten eines großen Parks, den Ajeschna ebenfalls frei nach ihrem Willen gestalten durfte. Ajeschna liebte die Pflanzenwelt und legte einen göttergefälligen Garten mit allerlei schönen Blumen und nützlichen Kräutern an, von denen sie einige aus Festum mitgebracht hatte. Eine Ecke des Gartens widmete sie ihrer geheimen Leidenschaft der Giftpflanzen. Sie hatte in Festum durchaus die „Manieren der feinen Gesellschaft“ gelernt und dabei ihre Begeisterung für diese Pflanzenarten entdeckt, die Macht über Leben und Tod besaßen und dabei zumeist so harmlos aussahen. Sie spielte gerne mit dieser Macht, und immer wieder würde die Dienerschaft im Garten oder im Haus Kröten, Vögel und andere Tiere finden, die ohne erkennbaren Grund tot umgefallen zu sein schienen.
Ajeschnas Liebe blieb jedoch bestehen. Immer wieder gelang es ihr, der Bewachung der Gärtner und Diener, die ihr Vater ihr „zur Verfügung“ gestellt hatte und die ihr nie von der Seite wichen, zu entschwinden und sich mit Wlad zu treffen. Sie trafen sich heimlich im Wald, in einer Jagdhütte, in einer dunklen Ecke des Gartens, im Keller, und es war fast so wie früher. Obwohl sie wusste, dass sie nicht für immer Verstecken spielen konnte, war Ajeschna glücklich.
Ihre Welt zerbarst, als ihr Vater ihr verkündete, dass er einen Ehemann für sie gefunden hatte. Er heiße Junar von Algarvien, stamme aus der Provinz der Mark und sei dritter Sohn aus gutem Hause mit einem ansehnlichen Vermögen und der Bereitschaft... Ajeschna war in Ohnmacht gefallen.
In den Wochen darauf war die junge Frau nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wut und Verzweiflung wechselten sich in ihr ab, eine taube, ohnmächtige Wut und eine schier endlose Verzweiflung. Wlad gelang es, den Schlag schneller wegzustecken. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, sagte er ihr, der Märker würde hier in Sewerien sowieso nicht bestehen können. Die Leute würden seine Arroganz nicht vertragen, zumal er wie alle Märker zu feige sein würde, die Knute gegen sie zu erheben. Außerdem würde er schon nach dem ersten Winter winselnd heimkehren in seine südlichen Gefilde. Zum ersten Mal in Wochen war es Wlad gelungen, Ajeschna ein Lächeln zu entlocken. Er setzte nach:
„Du wirst sehen, in wenigen Mondläufen wird dein Vater einsehen, dass nur ein Sewerier ein würdiger Erbe für ihn sein kann. Und dann werde ich der Einzige sein, der dafür in Frage kommt, ob es ihm gefällt oder nicht.“ Ajeschna knüpfte ihre gesamte Hoffnung an diese Aussicht und gewann ihren Lebensmut zurück. Sie verbrachten die Nacht im Wald und schworen sich ewige Liebe.

Ajeschna von Trevenen und Junar von Algarvien lernten sich am Tag ihrer Hochzeit kennen. Er schien ihr von Anfang an so zu sein, wie sie ihn sehen wollte: Stolz und arrogant. Er würdigte sie eines kurzen, wenn auch intensiven Blickes, als sie einander vorgestellt wurden. Während der gesamten Zeremonie jedoch sah er sie weder an noch sprach er ein einziges Wort mit ihr, wie es die Tradition gebot. Ajeschna musterte ihn immer wieder aus dem Augenwinkel. Er war hochgewachsen, schlank, blond, blauäugig, so überaus und vollständig anders als Wlad. Er trug keinen Bart und seine Haare waren schulterlang und glatt. Es war offensichtlich, dass er älter war als sie, aber sie vermochte sein Alter nicht zu schätzen. Die ganze Zeremonie über legte er einen frommen, pflichtbewussten Ausdruck an den Tag.
„Ihr seid noch schöner als euer blühender Garten.“ Dies waren die ersten Worte, die Junar an sie richtete. Er flüsterte sie ihr ins Ohr, als die Zeremonie beendet war und sie sich Hand in Hand zum Festmahl begaben. Ihr Vater hatte keine Mühe gescheut, die Feierlichkeiten so prunkvoll wie nur irgend möglich zu gestalten, galt es doch auch, Gäste wie den Baron von Eschenfurt zu beeindrucken und von seiner aufstrebenden Macht zu überzeugen. Für das Dorf wurde dies ein Fest, wie es lange keines mehr gegeben hatte. Für Ajeschna war dies die Einweisung in einen dunklen Kerker, in dem sie auf unbestimmte Zeit leben müsste.
Ajeschna hatte große Angst vor ihrer Hochzeitsnacht gehabt, da sie wusste, dass sie nicht würde verbergen können, wie es um ihre Jungfräulichkeit stand. Bei allem, was sie in Junar zu sehen versuchte, konnte sie nicht davon ausgehen, dass er zu unerfahren oder gar zu dumm war, um das zu bemerken. Letztendlich hatte sie damit jedoch sogar eine gewisse Hoffnung verbunden, er würde die Ehe für ungültig erklären lassen und unverzüglich wieder in seine Heimat zurückkehren. Sie befürchtete aber auch, dass er in Wut ausbrechen könnte. Nichts dergleichen geschah. Während er hinterher neben ihr schlief lag sie noch lange wach und dachte über das Geschehene nach. Es war wie eine weitere Zeremonie gewesen, wie ein wortloser, inszenierter Eroberungskampf. Entgegen ihren Erwartungen hatte er nichts gesagt, und nur, als er sich anschließend neben sie legte glaubte sie, für den Bruchteil eines Augenblicks eine Gefühlsregung in ihm zu erkennen. Er schien weder wütend noch überrascht, und auch keine Enttäuschung war ihm anzumerken. Dennoch hatte sie für einen ganz kurzen Moment das Gefühl, dass er tief im Innern verletzt war. ‚Nein‘, sagte sie sich, ‚er verdient deinen Mitleid nicht. Schließlich ist er der Störenfried. Er soll wissen und spüren, was er zerstört hat.‘
In den folgenden Tagen bemühte Junar sich sichtlich, Ajeschna für sich zu gewinnen. Er wich ihr nicht von der Seite, versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, brachte ihr Sträuße aus den schönsten Blumen ihres Gartens und rezitierte ihr Verse aus wer weiß was für Gedichten und Balladen. Vielleicht, dachte Ajeschna, hätte man das auch als anrührend bezeichnen können, aber sie war fest entschlossen, es als nervtötend zu empfinden. Immer weniger machte sie einen Hehl aus ihrer Ablehnung ihm gegenüber, doch je deutlicher sie ihn abwies, desto entschlossener umwarb er sie, und je entschlossener er sie umwarb, desto deutlicher lehnte sie ihn ab. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung.
„Sag mir nicht, dass du nicht ebenso von deinen Eltern zu dieser Hochzeit gezwungen wurdest wie ich von meinem Vater!“ warf sie ihm an den Kopf. „Und hör endlich auf, dich bei mir einschmeicheln zu wollen!“ Junar erwiderte Nichts. Aber sein Verhalten wurde daraufhin zurückhaltender.
Wie erwartet zeigte der junge Märker wenig Interesse für die Angelegenheiten des Dorfes und der umliegenden Güter. Zwar war weithin bekannt, dass Väterchen Mirosew sich die Verwaltung nicht vorzeitig aus der Hand würde nehmen lassen, aber es hätte sich durchaus geziemt, wenn Junar des Öfteren in Mirosews Schreibstube anzutreffen gewesen wäre. Statt dessen frönte der junge Herr seiner Vorliebe für die Jagd. Immer häufiger organisierte er Jagdgesellschaften auf der „Jagdhütte“. So nannte er den alten, nahezu im Wald gelegenen ehemaligen Familiensitz derer von Obereschen, den Mirosew ihnen vor einiger Zeit abgekauft hatte. Junar schien den Ort sehr zu mögen. Nicht so Ajeschna. Für sie war es ein heruntergekommenes altes Gehöft, das immer mehr zu einem Ort der Langeweile und nun, da der Sommer sich zum Ende neigte, auch zu einem Ort der Kälte wurde. Eines Tages weigerte sie sich, ihn zu begleiten.
„Wer ist ‚Wlad‘?“ fragte er daraufhin so unvermittelt, dass ihr sämtliche Gesichtszüge entgleisten. Sie senkte den Kopf. Erstaunlicherweise hatte weder sein Blick anklagend noch seine Stimme vorwurfsvoll gewirkt. Eine plötzliche Angst überkam sie, aber das Gefühl, sich vor diesem Fremden rechtfertigen zu müssen, versetzte sie vor allem in Wut. Schließlich hatte vor allem sie ihm etwas vorzuwerfen. Sie hob den Blick und schaute ihn durch schmale Augen an.
„Das geht dich gar nichts an!“ zischte sie. „Geh auf deine Jagd, genieße dein schönes Leben hier, aber denke nicht, dass ich jemals dazugehören werde!“
Sie glaubte zu sehen, wie in seinen Augen etwas zerbrach. ‚Endlich‘, dachte sie. Er sagte nichts mehr. Bedächtig drehte er sich um und verließ den Raum. Kurz darauf hörte sie, wie die Jagdgesellschaft aufbrach.
Sie fragte sich, wie Junar davon hatte erfahren können. In der Tat hatte sie Wlad heimlich eine Nachricht zukommen lassen, dass er sie heute besuchen möge. Nach etlichen quälend langen Stunden der Sorge erschien er. Es war das erste Mal, dass sie Wlad nach ihrer Hochzeit sah, und sie gab sich ihm mit all der verzehrenden Leidenschaft hin, mit der sie diesen Augenblick seit Wochen herbeigesehnt hatte.
Von nun an hatte sie öfter die Gelegenheit, sich mit Wlad zu treffen. Junar verlangte nicht mehr, dass sie ihn auf seine Jagdausflüge begleitete, und sprach auch nicht mehr über Wlad. Ein paar Monde lang glaubte Ajeschna, es hätte sich ein allseits akzeptierter Weg gefunden. Doch dann suchte sie eines Morgens ihr Vater auf, der wegen seiner Verwaltungsgeschäfte noch in ihrem alten Haus am Dorfplatz wohnte.
„Die Leute im Dorf reden viel über dich, meine Tochter, und das, was sie sagen, gereicht einer Baronsfamilie nicht zur Ehre.“
„Aber Vater, es ist doch nur das Gerede der Leute. Ihr wisst doch, wie sie sind.“
„Ich bin nicht hier, um über den Wahrheitsgehalt dieser Gerüchte zu debattieren“, erwiderte er, und sein Blick verriet, dass er es ernst meinte. „Die Leute reden eben, und du wirst dafür Sorge tragen, dass sie aufhören. Drücke ich mich klar genug aus?“
„Ja, Vater.“
Einige Tage lang war sie ratlos. Wut und Verzweiflung befielen sie erneut. Sie ließ ihre Wut an Junar aus. Es war nicht ausgeschlossen, dass er ihren Vater um Hilfe gebeten hatte. ‚Dieser Feigling.‘
„Du bist mir ja ein guter Ehemann. Lebst von einer Jagdgesellschaft nach der Anderen, und wenn du einmal hier bist, steckst du mit dem Kopf ständig in irgendwelchen Büchern oder schlägst dir den Bauch voll.“ Wie üblich erwiderte er nichts und zog sich statt dessen in seine Gemächer zurück. ‚Feigling.‘
Schließlich beschloss sie, über Katinka das Gerücht zu verbreiten, sie habe sich mit Wlad gestritten. Sie ließ sich im Dorf dabei belauschen, wie sie einige Äußerungen über Wlads Vater machte, die sonst nur Mirosew in den Mund genommen hätte. Das brachte ihr zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich Streit mit Wlad ein, der bereits am selben Abend bei ihr vorstellig wurde, außer sich vor Wut.
„Was ist mit dir los?“ fuhr er sie an. „Was soll dieser Verrat an unserer Liebe?“
Ajeschna sah sich nicht in der Lage, sich Vorwürfe machen lassen zu müssen.
„So, Verrat? Was hätte ich denn sonst tun sollen, um die Gerüchte zu zerstreuen?“ erwiderte sie heftig. „Und was hast du bisher getan? Es ist nicht mehr so wie früher, verstehst du? Wir müssen vorsichtiger sein.“
„Schön und gut, aber ich weigere mich, ein heimliches Doppelleben zu führen.“
„Du Narr! Was haben wir denn bisher getan? Du redest so, als seist du derjenige, der obendrein mit einem geistesabwesenden, feigen, märkischen Ehegatten zurechtkommen muss.“ Damit drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ ihn allein im Raum stehen.
Wenig später, als die Gemüter sich beruhigt hatten, versöhnten sie sich wieder und beschlossen, sich vorerst nur noch im Wald zu treffen.
Für eine Weile kehrte erneut Ruhe ein. Mitten im Winter erkrankte Ajeschna und konnte für einige Tage das Bett nicht verlassen. In ihrem fiebrigen Schlummer rief sie immer wieder nach ihrem Geliebten und dachte wahrzunehmen, wie er neben ihrem Bett saß. Erst nach langer Zeit wurde ihr bewusst, dass es Junar war, der dort saß. Er blieb bei ihr, beriet mit Katinka über den gesündesten Speiseplan und ließ einen Geweihten der Göttin Peraine aus Eschenfurt kommen. Die meiste Zeit jedoch saß er da und schrieb in seinem Notizbuch. Trotz ihrer Neugier zwang Ajeschna sich, nicht mit ihm zu sprechen. Als es ihr nach einigen Tagen besser ging, nutzte sie die Gelegenheit, als Junar selbst in seinem Sessel eingeschlafen war, und las in seinem Notizbuch. Zu ihrer Überraschung war es voller Gedichte. Es fanden sich Texte über weite Reisen, Leiden und Einsamkeit, aber auch solche über Hoffnung, Glück und Liebe. Ajeschna hatte den Eindruck, einen tiefen Blick in Junars Seele zu werfen. Viele Gedichte beschäftigten sich auch mit ihr. Sie sprachen von ihrer Gefangenschaft zwischen dem, den sie lieben wollte, aber nicht durfte, und dem, den sie lieben sollte, aber nicht wollte. Sie fühlte sich, als würde man ihr einen Spiegel vorhalten. Zum ersten Mal betrachtete sie Junar, ohne sich dazu zwingen zu können, Ablehnung gegen ihn zu empfinden. Sie fragte sich, warum um alles in der Welt er sich die Mühe machte, sie zu verstehen. Dachte er denn, er könne sie trotz allem noch für sich gewinnen? Offensichtlich war er weder stolz noch arrogant noch weltfremd, wie sie so oft angenommen hatte. Aber Junar war naiv und ein Träumer, wenn er seine Hoffnungen immer noch nicht begraben hatte.
Ajeschna sprach nicht mit Junar über das, was sie gelesen hatte. Als sie wieder gesund war, schaffte sie es mit einiger Mühe zurück zu der schroffen Behandlung, die sie ihm üblicherweise zukommen ließ. Diesmal erkannte sie deutlich die Enttäuschung in seinem Blick, aber wie immer nahm er es hin, ohne etwas zu erwidern. Ajeschna verdrängte die Bewunderung, die sie für Junars Idealismus entwickelt hatte, tief in ihr Inneres.
Bei Frühlingsbeginn verbrachte Junar bereits wieder mehr Zeit in der „Jagdhütte“, als in Trevenen. Inzwischen hatte er das alte Gehöft offenbar für ständiges Bewohnen wieder herrichten lassen. Ajeschna begrüßte die Freiheit, die ihr das gab. Dennoch ertappte sie sich neuerdings vereinzelt dabei, wie sie darüber nachdachte, was Junar wohl den ganzen Tag lang auf jenem alten Gehöft am Waldrand machte.
Wlad begann wieder, sie auch auf ihrem Anwesen zu besuchen, zunächst des Nachts und ungesehen, später auch am Tage. Es dauerte nicht lange, bis er die Veränderungen in ihrem Verhalten wahrnahm.
„Du schwebst so in Wolken, holde Maid“, spaßte er. „Ob du gar träumst von einem anderen Mann?“
Ihr erschrockener Blick, bevor sie den Kopf abwandte, ließ sein Grinsen auf der Stelle verschwinden.
Ajeschna spürte nun, wie sich ihr Verhältnis zu Wlad veränderte. Sein Vertrauen zu ihr wurde dünner wie die Eisschicht auf den Seen am Ende des Winters. Irgendwann würde es einbrechen. Sie spürte, dass Wlad besitzergreifend wurde.
„Sei doch nicht kindisch“, stellte sie ihn zur Rede. „Du weißt ganz genau, dass ich meine ehelichen Pflichten zu erfüllen habe.“
„Das ist eine Sache,“ gab er zurück, „aber wenn du es mit Freude tust und noch dazu dein Herz an diesen Kerl vergibst, dann ist das etwas ganz Anderes.“
Sie spürte, wie eine tief in ihr begrabene Verzweiflung aufflackerte und sie übermannte. Sie brach in Tränen aus.
„Ich kann es nicht, Wlad. Ich kann mich nicht dauerhaft zwischen zwei Menschen aufteilen. Ich kann mich nicht ständig zwingen, jemanden zu hassen, der mir nichts getan hat.“
Wlad wollte oder konnte das nicht verstehen. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er einen Anspruch an ihr hatte und diesen weiterhin geltend machen würde. Er erinnerte sie daran, dass sie sich ewige Liebe geschworen hatten und er zu seinem Schwur stand. Damit ließ er sie allein, tränenüberströmt und am Ende ihrer Kräfte.
In der Zwischenzeit hatte die Gerüchteküche im Dorf wieder frischen Aufwind bekommen und brodelte mit ausgesprochen frühlingshafter Energie. Ajeschna war sich sicher, dass es nicht lange dauern konnte, ehe ihr Vater sie wieder zur Rede stellte. Statt dessen war es jedoch Junar, der eines Abends zu ihr kam.
„In Trevenen ist man sehr beschäftigt mit deinen Angelegenheiten“, sagte er, „und dein Vater ist der Meinung, ich sollte die Sache ein für allemal bereinigen, wie es sich geziemt.“
„Und, wirst du es tun?“ fragte sie, ohne einen Hauch von Ironie unterdrücken zu können.
„Ich weiß nicht, welchen Nutzen es bringen sollte“, sagte er nachdenklich. „Seinem Vater würde ich den einzigen Erben nehmen, und dir gäbe ich erst recht einen Grund, mich zu hassen.“
Überrascht blickte sie zu ihm auf, kurz davor, etwas zu erwidern, aber sie sah, dass er sich bereits umgedreht hatte und zu Tür schritt. Fassungslos blickte sie ihm nach. Sie wusste nicht, wofür sie ihn mehr bewundern sollte, ob für den Inhalt seiner Worte oder für die Tatsache, dass er nicht die leiseste Anspielung darauf gemacht hatte, dass auch er derjenige sein könnte, der in einem Duell sein Leben verlor. Junar war entweder ein bemerkenswerter Narr oder ein äußerst listiger Fuchs. Vermutlich war er ein Wenig von Beidem.
Inzwischen musste Ajeschna sich eingestehen, dass sie eine gewisse Bewunderung und vielleicht sogar ein wenig Zuneigung für Junar empfand. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen begann sie, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie ihn schlecht behandelte oder ihn betrog. Darunter litt ihre Beziehung zu Wlad. Sie versuchte, mit Wlad darüber zu reden, aber die Zeiten, in denen sie über Alles reden konnten, waren vorbei. Immer öfter stellte er sie vor die Frage, ob sie ihn überhaupt noch liebte.
„Ich liebe dich“, sagte sie, tief gekränkt. „Ich werde dich immer lieben. Das weißt du. Aber ich habe auch eine Verantwortung meiner Familie gegenüber, und du weißt genauso gut wie ich, dass das hier nicht endlos weitergehen kann.“
„So so, der zukünftige Herr Baron und sein Fräulein Tochter, was? Na, das sind ja ganz neue Saiten, die Mamsell da aufzieht“, erwiderte er. Es war zwecklos, mit ihm zu reden.
Schließlich begann sie in ihrer Einsamkeit, die Gegenwart von Junar zu vermissen. Eines Abends stand sie plötzlich in der „Jagdhütte“. Seinen überraschten Blick erwiderte sie ihrerseits mit einem flehenden Blick und hoffte, er würde sie nicht zu einer Rechtfertigung zwingen. Zu ihrer Freude stellte er keinerlei Fragen. Er lud sie ein, Platz zu nehmen, und ließ ihr Kräutertee bringen. Sie verbrachten den Abend, ohne ein Wort zu wechseln. Er ließ ihr ein Zimmer für die Nacht herrichten, doch nach einigen Stunden suchte sie ihn in seinem Schlafgemach auf.
Es wurde wieder Sommer, und Junar machte keine Anstalten, in seine Heimat zurückkehren zu wollen. Ajeschna ließ es sich nicht nehmen, Wlad darauf hinzuweisen, dass die von ihm prophezeite Entwicklung zu ihrer beider Gunsten nicht eingetreten war.
„Wenn du das so sagst,“ bemerkte er, „dann könnte man meinen, du willst ihn gar nicht mehr loswerden.“
Sie zog es vor, nicht darauf einzugehen.
„Tatsache ist,“ führte sie an, „dass meine Ehe mit Junar kein zwischenzeitliches Ereignis sein wird.“ Er sah sie an, als wolle er nicht wahrhaben, worauf sie hinauswollte.
„Wlad, du weißt, ich liebe dich, aber das kann jetzt nicht mehr weitergehen. Wir müssen einfach eingestehen, dass wir verloren haben.“
Sein Geduldsfaden riss.
„Wie du über die Liebe sprichst. Du willst eine Entscheidung?“ Er schrie. „Schön und gut. Aber verloren haben wir noch lange nicht. Wenn dieser Feigling sich weigert, die Sache zu bereinigen, dann werde ich es eben tun. Ich werde ihn herausfordern.“
Das brachte das Fass auch für sie zum Überlaufen.
„Und mit welchem Recht glaubst du, dass du das tun kannst?“ Sie sprach leise, fast stimmlos. „Er ist mein Ehemann. Er hat das Recht, für seine Ehre einzustehen. Du bist Niemand. Du kannst dich freuen, wenn er sich weiterhin so geduldig und so nachsichtig zeigt wie bisher. Und du weißt, dass wir das beide nicht verdient haben.“
Er brauste auf, brachte jedoch kein Argument zustande und stampfte statt dessen wütend aus dem Raum. Das war in letzter Zeit immer öfter vorgekommen. Sie wusste, dass er nur eine Weile durch den Garten laufen würde. Dann hätte er sich wieder beruhigt. Danach würde er zurückkehren und sie würden in einer angespannten Stille zu Abend essen. Anschließend würden sie sich versöhnen, und er würde die Nacht bei ihr verbringen. Aber heute hatte er zum ersten Mal damit gedroht, Junar zum Duell aufzufordern, und sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es auch tun würde. Ihr Kopf begann zu kreisen. Die Gedanken überschlugen sich. Wlads Drohung galt Junar, doch Ajeschna fühlte sich, als habe er sie selbst unmittelbar bedroht. Was auch immer passierte, ein solcher Duell würde ihr einen großen Verlust beibringen, und außerdem würde er den Ruf ihrer beider Familien in Mitleidenschaft ziehen. Keiner ihrer Väter würde jemals den Baronstitel erhalten. Die Vorstellung, dass ihr Vater ihretwegen das verlieren sollte, worauf er sein Leben lang hingearbeitet hatte, machte ihr ungeheure Angst. Aber der Schaden war angerichtet. Es gab keine andere Lösung – wenn sie die Dinge nicht selbst in die Hand nahm. Mit einem Mal war sie wie betäubt. Sie merkte noch, wie ihr Tränen in die Augen schossen, aber sie fasste ihren Entschluss, ohne darüber nachdenken zu können. Mit langsamen Bewegungen durchquerte sie das Zimmer und blieb vor jener Truhe stehen, in der sie die Erzeugnisse ihres Gartens aufbewahrte. Sie öffnete ein Kästchen, das mehrere Phiolen enthielt, und wählte eine davon aus.
Katinka fuhr erschrocken herum, als Ajeschna die Küche betrat. Ihr Schreck ließ nicht nach, als sie die aufgelöste Erscheinung ihrer Herrin bemerkte. Ajeschna ging wortlos zu dem Suppentopf, der auf dem Herd stand, nahm eine Suppenschüssel und füllte sie mit Suppe. Dann gab sie den Inhalt der Phiole dazu. „Dies ist die Suppe für den Herrn Gast“, sagte sie. Katinkas Angst war deutlich zu erkennen, aber sie sagte nichts. Sie nickte, woraufhin Ajeschna die Küche wieder verließ.
Genauso aufgelöst fand Wlad seine Geliebte vor.
„Sollen wir noch einmal darüber reden?“ fragte er besorgt.
„Jetzt nicht“, erwiderte sie und versuchte mit ganzer Kraft, sich zusammenzureißen. Noch nie war es so schmerzhaft gewesen, zu lächeln. „Lass uns erst einmal essen.“


II.) Mirosew

„Was sagst du da?“ Er wollte nicht glauben, was er hörte. Er hatte damit natürlich nicht gemeint, dass er es nicht verstanden hatte, aber dieser Bauer war tatsächlich so dämlich, alles noch einmal zu wiederholen. „Nun, Väterchen, der Pjotresch und ich, wir haben heute Morgen die Fallen überprüft, die wir auf eure Anweisung hin vor einiger Zeit im Wald aufgestellt haben, und als wir danach auf dem Weg ins Dorf waren, um Eurem Schreiber Bericht zu erstatten, da haben wir Väterchen Wladimir gefunden. Er saß an einen Baum gelehnt, aber er war tot. Man konnte nur nicht sehen, wovon er tot war, er saß einfach nur tot da.“ Pjotresch stand daneben und quittierte den Bericht mit ständigem Kopfnicken.
Mirosew kamen tausend Gedanken auf einmal, so dass er keinen von ihnen verfolgen konnte. Schließlich drang eine Sorge unmittelbar in sein Bewusstsein.
„Habt ihr sonst irgendjemandem davon erzählt?“ Die beiden Bauern schüttelten den Kopf.
„Gut, dass das auch ja so bleibt. Ihr wartet hier, ich werde euch dann sagen, was ihr tun sollt.“
Damit zog er sich erst einmal zurück. Er musste nachdenken.
Mirosew war sofort klar, woran „Väterchen Wladimir“ gestorben war. ‚Das törichte Mädchen!‘ dachte er. ‚Sie hat also einfach die Nerven verloren.‘
Er wusste, was seine Tochter in der hinteren Ecke ihres Gartens wachsen ließ. Er warf sich vor, es ihr nicht von vornherein untersagt zu haben.
„Seht doch Vater“, hatte sie ihm begeistert gesagt und ihm ein paar Exemplare gezeigt. „Sie tragen den Tod in sich und verbergen ihn hinter den schönsten Blüten und den saftigsten Früchten.“
Er hatte ihr schon einmal ihre Freude genommen und beschloss daher, sie ihr dieses Mal zu lassen. Aber als sie Anfing, ihre Gifte an Kröten und Vögeln auszuprobieren, hätte er der Sache ein Ende setzen müssen. Er hatte es nicht getan. Aber er hätte sie auch nie für fähig gehalten, so weit zu gehen.
Langsam sortierten sich in seinem Bewusstsein die Gedanken darüber, was das Ganze für Folgen haben würde. Sergij würde außer sich sein, aber er würde nicht zu ihm kommen, um die Angelegenheit zu klären. Statt dessen würde dieser Narr direkt zum Kronvogt laufen und sie alle endgültig ins Verderben stürzen. Es würde einen riesigen Skandal geben, und keiner von ihnen würde jemals einen Baronstitel verliehen bekommen. Er nicht, weil seine Tochter eine Mörderin war, und Sergij nicht, weil er keinen Erben mehr vorzuweisen hatte. Und der von Eschenfurt würde als lachender Dritter nur die Hand aufhalten und sich an den Scherben bedienen.
Mirosew verlor sich in Gedanken. Er dachte an die Zeit, in der niemand von ihnen geglaubt hätte, dass es so enden würde. Sergijs Frau war ebenso wie seine kurz nach der Geburt ihres Kindes gestorben. Die beiden Männer fanden damals großen Trost darin, ihr Leid teilen zu können. Ihr Verhältnis war schon immer von einer gewissen Konkurrenz geprägt gewesen, aber es war eher wie das neckische Wettstreiten zweier Brüder darum, wer die größere Ernte oder den größeren Viehbestand aufzuweisen hatte. Sie hatten verwandte Seelen und besaßen den gleichen Ehrgeiz. Sie verstanden es beide, ihre Ländereien zu verwalten, und so konnte jeder von ihnen im Laufe der Jahre seinen Besitz vergrößern und ein beträchtliches Vermögen anhäufen. Bald waren sie zweifellos die mächtigsten Adligen in der Umgebung und waren sogar in der Lage, es mit dem Baron von Eschenfurt aufzunehmen.
In Festum trug man dieser Entwicklung schließlich Rechnung und verkündete, dass man aufgrund der veränderten Machtverhältnisse über die Einrichtung einer neuen Baronie nachdachte. So klar es war, dass nur Mirosew und Sergij als Kandidaten für diesen Titel in Frage kamen, so klar war auch, dass nur einer von ihnen ihn bekommen würde. Damit hatten die Probleme angefangen. Sicher dachten sie darüber nach, ihre Kinder zu vermählen und zu ihren gemeinsamen Erben zu machen. Aber es hätte immer noch bedeutet, dass einer von ihnen auf den Baronstitel verzichten musste. Darüber brach ein heftiger Streit aus, der schließlich zum Bruch führte. Ihre Konkurrenz wurde zu einem erbitterten Kampf. Mirosew begann, nach und nach weitere benachbarte Gehöfte aufzukaufen, und Sergij tat es ihm gleich, wohlwissend, dass er sich früher oder später übernehmen würde. Sergij, dieser Narr, hatte nie einsehen wollen, dass er, Mirosew, die weitaus besseren Voraussetzungen hatte, um die gemeinsamen Ländereien zu verwalten und weiter zu vergrößern. Man begann, immer wieder Bauern zu entsenden, um von den Feldern des Anderen zu stehlen oder um die Rinder des Anderen freizulassen. Das Wort richteten sie aneinander nur noch in abfälligen Bemerkungen.
Mit der Zeit war Sergij wohl klar geworden, dass er das Nachsehen haben würde. Aber anstatt es einzugestehen versuchte er klammheimlich, seinen Sohn bei Mirosew unterzubringen. Und Ajeschna war verträumt und dumm genug, sich tatsächlich in ihn zu verlieben. Mirosews Versuche, diese Verbindung zu untergraben, waren allesamt gescheitert. Sie war nach zwei Jahren aus Festum zurückgekehrt und liebte ‚ihren Wlad‘ stärker als je zuvor. Sie richtete ihr Haus und ihren Garten ein und träumte davon, es mit ‚ihrem Wlad‘ zu bewohnen. Sie betrog ihren Ehemann und machte sich mit ‚ihrem Wlad‘ darüber Gedanken, wie sie ihn wieder loswerden konnte. Mirosew stutzte. Er fragte sich, ob es aus Verantwortungsgefühl für die Familie oder aus bloßem Respekt vor ihm war, dass sie nicht Junar vergiftet hatte.
Aber Junar hatte er überschätzt. Er war eben doch nur ein Märker. Mirosew hatte durchaus damit gerechnet, dass das Ganze mit Wladimirs Tod enden könnte. Im Prinzip war es gar nicht mal so eine schlechte Lösung. Aber er war immer davon ausgegangen, dass Wlad von Junars Hand sterben würde. Ein solcher Tod wäre eine Sache der Ehre, er würde der Baronswürde nicht im Wege stehen. Ein gemeiner Meuchelmord dagegen schon.
Aber Junar war entweder ein riesiger Idiot oder ein unglaublicher Feigling. Er hatte einfach wortlos mit angesehen, was um ihn herum geschah. Er war seinen Pflichten nicht nachgekommen.
Mirosew stützte die Ellenbogen auf den Tisch, an dem er inzwischen saß, und vergrub das Gesicht in den Händen. Das Spiel war aus.
Es sei denn...
Plötzlich fügte sich Alles zusammen. Die dunklen Wolken hoben sich von Mirosews Gemüt, während er seinen Entschluss fasste und einen Plan ausarbeitete. Vielleicht hatte Junar nichts getan, aber Grund genug dazu hatte er. Die Leute hatten einen Mord erwartet, und es konnte nicht so schwer sein, ihnen den Mord zu geben, den sie erwartet hatten. Ihm kam die fehlende Idee. Man würde Junar Verständnis entgegenbringen, aber man würde ihn gleichzeitig auch ächten. Schließlich wäre er immer noch der arrogante Ausländer, der noch dazu „Väterchen Wladimir“ getötet hatte. Der Kronvogt würde ihn bei allem Verständnis für seine Lage nach Festumer Recht als Mörder verurteilen. Für Mirosew bedeutete es, dass er Junar fallenlassen musste, denn als Erbe würde er nicht mehr in Frage kommen. Aber es gab keine Wahl, denn niemals würde er seine Tochter fallenlassen. Außerdem war dies der Lauf der Dinge, den er von vornherein vorgesehen hatte.
Er ließ die beiden Bauern zu sich rufen. Er händigte ihnen einen Brief aus, den er in der Zwischenzeit verfasst hatte.
„Lauft zum Gutshaus von Obereschen, und gebt das hier an den Diener Jewan. An niemand anderen, versteht ihr? Wartet dort, er wird euch einen Dolch geben. Mit diesem Dolch werdet ihr zu Wladimir zurückkehren und ihm ins Herz stechen. Werft den Dolch anschließend in den Wald. Lasst euch dabei nicht beobachten, klar? Dann lauft ihr in das Dorf und verkündet, dass ihr „Väterchen Wlad“ soeben erstochen im Wald gefunden habt.“
Die Beiden sahen ihn mit großen, fragenden Augen an. Dann nickten sie und machten Anstalten, zu gehen.
„Und dass ihr ja mit niemandem darüber redet“, fügte er hinzu. „Das würde auch eure Töchter in Gefahr bringen, die in diesem Haus ihren Dienst versehen.“
Die Angst stand den Beiden ins Gesicht geschrieben. Eine Gefahr für ihre Töchter, die sie als Fronbauern in den Gesindedienst hatten entsenden müssen, war ein Argument, dem sie nichts entgegnen konnten. Gesenkten Hauptes verließen sie den Raum.
Mirosew machte sich sofort daran, zu überlegen, wie er mit der Situation würde umgehen müssen. Es würde ihn viel Mühe kosten, das Ansehen der Familie wieder herzustellen, aber es war möglich. Der Baronstitel rückte wieder in greifbare Nähe, und nachdem Sergij keinen Erben mehr hatte, würde er, Mirosew der einzige Kandidat sein. Nach all den Jahren hatte er nun endlich gewonnen. Allein, es schmeckte ihm nicht nach einem Sieg.




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